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(Soziales, Österreich, Steiermark, Bezirk Weiz, Gleisdorf)

• Portrait: Angelika Paar / Obfrau der "Chance B"
Von Martin Krusche

"Jeder wie er kann." Von dieser Annahme geht Paar gerne aus. Und daß sich Menschen daher gegenseitig helfen sollten, weil dann die Chance am größten sei, anfallende Belastungen zu bewältigen. Das bezieht die Gründerin der "Drehscheibe" keineswegs bloß auf die Lebenssituation behinderter Menschen. Sondern betrachtet es als allgemeines Prinzip.

Was innerhalb der "Drehscheibe" an Informationsangeboten, Erfahrungsaustausch, Ideensammeln konkret für die Angehörigen behinderter Menschen geboten wird, bezieht seine Notwendigkeit sehr erheblich aus den Einschränkungen, die sich von außen ergeben. Wodurch eine heikle Lebenssituation oft verschärft wird. "Sobald ich im Rollstuhl sitze, wenn ich wo rein will, wenn ich wo raus will, wenn ich irgend was erreichen will, stehe ich dauernd vor Barrieren", sagt Paar, um nur ein Beispiel zu nennen. "Es ist dadurch alles kompliziert."

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Sieht man genauer hin, erweist sich ein großer Teil der Probleme, die man mit dem Thema "Behinderung" verbindet, als von ganz allgemeiner Natur. Schwierigkeiten wie sie uns allen innerhalb eines langen Lebens einmal zufallen können. Paar ist Mutter einer schwer behinderten Tochter, einer jungen Frau von 23 Jahren. Das ergibt natürlich prägende Erfahrungen, an denen manches nicht gerade alltäglich ist. Anderes wiederum zeigt sich genau so, wie sich übliche Mutter-Tochter-Beziehungen eben erweisen.

Deshalb weiß Paar aus eigener, aus sehr gründlicher Erfahrung: "Normalität" ist eine Konstruktion. Normalität ist das, was ausreichend viele Menschen für "normal" halten. Dahinter müssen oft Behinderte und Nichtbehinderte gleichermaßen verbergen, was sie von der gerade gängigen Normalitätsvorstellung abweichen läßt.

So ist Paar auch mit der Position "Ich bin so arm" nicht einverstanden. Das sei ein Rollenangebot, welches man zurückweisen müsse, betont sie. Denn dadurch werde verhüllt, daß man "um alles kämpfen muß, was für andere ganz selbstverständlich ist." Die engagierte Frau legt den Finger auf den wunden Punkt. Wenn sie und ihre Tochter als "so arm" gelten dürften, hätte man die schlichte Frage vermieden: "Warum bekommt ein behinderter Mensch nicht einfach, was er braucht?"

Statt darauf zu antworten, flüchten sich manche Mitmenschen lieber in kühne Fantasien. Wo schnell Spekulationen über "Schuld" ins Spiel kommen. Und so abstruse Vorstellungen wie: "Die hat ihr Kind im Kofferraum eingesperrt." Es ist ganz erstaunlich, welche Unterstellungen einem manchmal zufliegen. Was ja vielleicht bloß die verbreiteten Ängste reflektiert. Denn Faktum ist: es kann jederzeit passieren. An jedem Ort. Daß durch einen Vorfall, Unfall, oder einfach hohes Alter, egal wodurch, jemand seine Unabhängigkeit verliert. Daß jemand zeitlich begrenzt oder dauerhaft auf Hilfe angewiesen ist.

Paar, die auch am Aufbau der "Chance B" beteiligt war, macht sich da weder Illusionen, noch ist sie bereit, sich davon zynisch machen zu lassen. Kinder müssen oft dafür herhalten, ihren Eltern eine Zierde zu sein. Klappt das nicht, besteht etwa die Furcht: "Was werden die Leute sagen?" Paar hält dagegen: "Darf mein Kind einfach mein Kind sein, das ich liebe?" Sie weiß natürlich: "Da ist auch die Angst, mit einer Belastung allein gelassen zu sein. Oder zum Außenseiter zu werden." Wogegen nach ihrer Überzeugung vor allem eines hilft: "Offen sein!" Und: Niemanden aus der Idee von Normalität ausschließen. Aber was heißt das in der Praxis?

Paar erwähnt eine Mutter, die nach zu langer, permanenter Überlastung in der Zuständigkeit für ein behindertes Kind einfach nicht mehr kann und sich umbringen möchte. Oder daß sexueller Mißbrauch vorkommt und jemand nicht zu sprechen wagt. Aus Scham und aus Angst, jeden Rückhalt zu verlieren. Sicherlich extreme Beispiele. Lange bevor eine Situation derart eskaliert, müßte man eigentlich gehört werden. Mit der zulässigen Frage: Was ist nötig, damit es mir besser gehen kann? Paar: "Am wichtigsten ist, daß es eine stabile Familiensituation gibt." Dafür müsse es allen Beteiligten langfristig gut gehen können. Das beginnt oft schon damit, "daß ich einmal mit jemandem reden kann, der die gleichen Probleme hat wie ich und sich auskennt." Es gilt ja nicht umsonst als Faustregel: "Wert nicht spricht, zerbricht."

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