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(Dienstleistung, Medizin, Österreich, Steiermark, Bezirk Weiz, Gleisdorf)

• Portrait: Walter Kurtz / Arzt
Von Martin Krusche

Der Großvater, Camillo Kurtz, war ein tatkräftiger Kaufmann, Vater von zwölf Kindern, der im obersteirischen Industriegebiet stets nach neuen Aufgaben suchte. Ob ein Waggon voll grüner Kaffeebohnen, ob eine Wagenladung Lodenmäntel, Ende des 19. Jahrhunderts sind da vielfältige Güter durch die gleichen Hände gegangen.

1909 kaufte Camillo in Gleisdorf ein Bürgerhaus mit angeschlossener Landwirtschaft. Das Grundstück reichte vom Ortskern, den Kessel entlang, bis zum Wald hinauf. Eine damals für Gleisdorf typische Situation. In der Folge der Entwicklung stand die ganze Familie für einen, wie man heute sagen würde, abenteuerlichen „Branchenmix“. Mit einer Bierbrauerei, einer Keramikproduktion etc.

Camillo hatte nicht nur von einer Weltausstellung in Paris ein Grammophon mitgebracht. Da er in Bad Gleichenberg auch ein Hotel besaß und die Zugverbindungen noch unzureichend waren, verfügte er über eines der ersten Automobile in der Oststeiermark, um Gäste von Graz abholen zu können.

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Einer seiner Söhne, Walters Vater August, war Arzt gewesen, hatte in Graz studiert und Ende der 1920er-Jahre in Gleisdorf zu praktizieren begonnen. Walter wurde so als Kind schon damit vertraut, wovon das Leben eines praktischen Arztes handelt. Er hatte sich damals allerdings eher für das Handwerk begeistert, war mit Leidenschaft in den Werkstätten eines Tischlers und eines Schusters zugange gewesen.

Walter hat, 1939 geboren, im Jahr als Großvater Camillo starb, gerade mal die ersten zehn Lebensjahre in Gleisdorf verbracht. Es gab damals vor Ort keine Mittelschule. Acht Jahre Gymnasium und sieben Jahre Studium in Graz, drei Jahre Turnus in Feldbach, die Zeit als Teenager, hatte er also auswärts gelebt.

Mitte 1969 hat Walter gerade mal zwei Monate mit seinem Vater gemeinsam in der Praxis gestanden, um sie zu übernehmen. „Der Vater ist dann nie mehr in die Ordination gekommen.“ Das ähnelt durchaus der Übergabesituation mit einem seiner vier Söhne, Georg, der heute an seiner Stelle ordiniert. Seine Frau Ingrid ist all die Jahrzehnte eine wichtige Stütze des Ordinationsbetriebes gewesen. In Summe ein familiäres Lebensprinzip, das von erheblicher Leistungskraft handelt.

Das sei ihm gewissermaßen vorgegeben gewesen, deutet Walter an. In der großen Familie firmierten so viele tüchtige Geschäftsleute, wer solchen Maßstäben nicht gewachsen schien, war auch kein Thema. „Es gehörte zum Selbstverständnis des praktischen Arztes: Er ist immer da, immer verfügbar. Das hat man damals erwartet. Wie ich meinen Vater erlebt habe, war das so.“ Es konnte jede Tages- und Nachtzeit betreffen. Belastungen, auf die Walter später zu sagen pflegte: „Ja, das gehört halt zu meinem Job.“ Er fügt an: „So war meine Erziehung.“

Aus einem Schicksalsschlag bezog Walter wichtige Anstöße, diesen kräfteraubenden Modus zu überdenken. In jener Zeit liegen die Anfänge eines Weges, auf dem Walter zum Gesprächstherapeuten wurde. 1977 hatte in Gleisdorf eine Beratungsstelle eröffnet, deren unmittelbarer Anlaß die Einführung der Fristenlösung gewesen ist. In diesem Umfeld war immer deutlicher geworden, wie wichtig es sei, daß die Menschen, wenn sie in Schwierigkeiten geraten, mit einander reden. „Ich wollte auch einen Kompetenzgewinn für den besseren Umgang mit Patienten.“ Was zur Folge hatte, daß er Betrieb und Tempo in seiner Ordination verminderte. „Ich bin immer ‚langsamer’ geworden, hab an den Menschen in meiner Sprechstunde jetzt so viel gesehen, was ich vorher nicht wahrgenommen hab. Das ist natürlich für meine Damen draußen ein Problem geworden, wenn drinnen nichts weitergeht und das Wartezimmer ist voll.“ Sein Fazit: „Also hab ich ein Limit gesetzt, wie viele Patienten pro Tag zu mir kommen können. Dann bin ich draufgekommen, daß ich an manchen Tagen sehr gut vorankomme, an anderen Tagen aber so ‚zäh’ bin und viel länger brauche, um zu sehen, was mit jemandem los ist. Da hab ich dann zu meinen Damen gesagt, es sollen nur so viele Patienten herein, wie ich an einem solchen zähen Tag schaffe.“ Wenn es dann dennoch schneller ginge, würde einem ohnehin nicht langweilig. „Es ist bald in Gleisdorf viel gebaut worden, vor allem sind von Graz Menschen hergezogen. Da hab ich gesagt, ich nehme überhaupt keine neuen Patienten mehr auf.“

Auf Nachfrage meinte Walter: „Es war aber nicht so, daß ich auf die Bremse gestiegen wäre. Ich bin nur vom Gas weggegangen.“ Dieses Zurücknehmen handelte davon, „daß ich für mich etwas gewonnen hab, vieles gelernt, was nicht in den Lehrbüchern steht. Die Langsamkeit macht es möglich, Sachen auf eine andere Weise zu erkennen.“

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